Der sechsfache Mord im Einödhof Hinterkaifeck am Hexenholz bei Gröbern war zweifellos das schrecklichste Kapitalverbrechen, das während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts im Altlandkreis Schrobenhausen geschah. 1922 fielen alle Bewohner des einsam gelegenen 50-Tagwerk-Anwesens zwischen Waidhofen und Edelshausen einer Bestie in Menschengestalt zum Opfer: drei Frauen, ein Mann, ein kleines Schulmädchen und ein Büblein in seinem Kinderwägelchen. Seitdem sind mehr als siebzig Jahre verstrichen. Das ungeheuerliche Verbrechen, von dem bald ganz Deutschland sprach, blieb bis heute ungesühnt. Der unbekannte Mörder - oder waren gleich zwei Mordbuben am Werke? - dürfte seinen Richter wohl erst in der Ewigkeit finden. Und so mag es kommen, wie Logau aus Sextus Empirics übersetzte: "Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber trefflich klein, / Ob aus Langmut er sich säumet, bringt mit Schärf' er alles ein."
Der Massenmord wurde in der wolkenverhangenen, regnerischen, stürmischen Nacht vom Freitag dem 31. März, auf Samstag, dem 1. April, verübt. Mit einer breiten, eisernen Kreuzhaue erschlug der Mörder die Hofbesitzerin Viktoria Gabriel (35), geborene Gruber - deren Mann Karl Gabriel, geboren am 16. Dezember 1888, bei Neuville/Arras am 12. Dezember 1914 als Infanterist fiel -, ihre Tochter Cäcilia Gabriel (8), ihr Söhnchen Josef (2), ihren Vater Andreas Gruber (63), ihre Mutter Cäcilia Gruber (72) und die Dienstmagd Maria Baumgartner (44) aus Kühbach. Allen Opfern war der Schädel eingeschlagen worden. 1880 Goldmark und 327 Silbermark ließ der Unhold unberührt liegen, obwohl er sie, ohne lange danach suchen zu müssen, in der Schlafkammer des alten Grubers finden hätte können. Im Dunkel der Nacht machte sich die Bestie davon.
1. April: In der Volksschule Waidhofen fiel auf, daß die kleine Cäcilia nicht zum Unterricht erschien. Draußen in Hinterkaifeck öffnete niemand dem anklopfenden Postboten Mayer. Weil die Hinterkaifecker bekannt dafür waren, daß sie am liebsten unter sich blieben, dachte sich der Postschaffner nichts weiter.
2. April: In der Waidhofener Pfarrkirche vermißte man beim Sonntagsgottesdienst Viktoria Gabriel. Sie war eine Stütze des Chores, und ausgerechnet heute, wo man die neueinstudierte Messe erstaufführte, hätte man dringend ihren Sopran gebraucht.
3. April: Am Montag fehlte die achtjährige Cäcilia bereits den zweiten Tag in der Schule. Der Postbote fand die Zeitung vom Samstag schneebedeckt am Fenster stecken. In Gröbern hörte man das Hinterkaifecker Vieh im Stall brüllen.
4. April: Monteur Hofer aus Pfaffenhofen kam. Der alte Gruber hatte ihn herbestellt. Hofer wunderte sich, daß niemand daheim war, reparierte den defekten Motor der Futterschneidemaschine, wusch sich seine ölverschmierten Hände im Stall und wußte nicht, was er von dem laut brüllenden Vieh halten sollte. Beim Verlassen des Anwesens traf er den Postboten; der sollte einen Brief der Schule abgeben; denn die Cäcilia fehlte nun schon den dritten Tag, ohne daß Lehrer Sellwanger ein Entschuldigungsgrund mitgeteilt worden war. Monteur Hofer und Briefträger Mayer berieten sich: Was ging hier vor? Was sollte man unternehmen? Beiden war es nicht recht geheuer. Der Postler setzte sich schließlich auf den Sozius und fuhr mit dem Monteur auf dessen Motorrad nach Gröbern. Ortsvorsteher Schlittenbauer wurde verständigt. Wenig später kamen Schlittenbauer, seine beiden Söhne, der Landwirt Sigl und der Gütler Pöll nach Hinterkaifeck. Durch das offenstehende Scheunentor gingen sie in die Futterkammer. Plötzlich schrie Sigl: "Männer! Da her!" zu ihrem Entsetzen sahen sie in der Futterkammer, nur mit einigen Brettern und etwas Heu lose zugedeckt, über- und nebeneinanderliegend die schrecklich zugerichteten Leichen der Bäuerin, ihres Töchterlein und ihrer Eltern. Die Dienstmagd fand Schlittenbauer in ihrer Kammer, halb auf dem Fußboden, halb auf einem Stuhl liegend. Die kreuzbrave Magd hätte am 1. April ihren Kaifecker Dienst antreten sollen, war aber schon tags zuvor aufgezogen und in den Tod gegangen. Das Josefle lag tot in seinem Kinderwägelchen in der mütterlichen Kammer.Ein Händchen ragte über den Korbrand hervor. Der Mörder hatte das Dach des Wägelchens mit der Eisenhaue durchschlagen und dem Bübchen den Kopf zerschmettert.
5. April: Die Mordkommission setzte ihre tags zuvor begonnenen Untersuchungen verstärkt fort. Leute kamen von weither und beteten vor dem Haus des Grauens.
6. April: Die gerichtsärztliche Sektion der Leichen brauchte kaum neue Erkenntnisse. Die Polizei versuchte, Spuren zu sichern.
7. April: Die Gerichtsmediziner gaben die Leichen zu Beisetzung frei. Nun durchkämmten fünfzig Gendarmen tagelang die Wälder. Umsonst! Der Unhold hatte seinen Vorsprung längst genützt.
8. April: Auf einem Brückenwagen wurden die sechs Leichen in ihren Särgen zum Friedhof nach Waidhofen gefahren. Pfarrer Haas zelebrierte die Exequien. Tausende nahmen an den Trauerfeierlichkeiten Anteil. Die Toten fanden in einem gemeinsamen Grabe ihre Ruhestätte. Ein Obelisk aus schwarzem Marmor erhebt sich darüber. -
Ein Jahr später, 1923, entdeckte der neue Hofbesitzer auf dem Fehlboden des Speichers das Mordwerkzeug: blutverschmiert und mit verkrusteten Frauenhaaren. Das Anwesen wurde abgerissen. In der Nähe erinnert ein Marterl an den Ort des Grauens. Hinterkaifeck gibt es nicht mehr.
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