Um die Einöde Hinterkaifeck - zwischen Ingolstadt und Schrobenhausen - fegt ein eisiger Wind. Er rüttelt und zerrt an den klapprigen Fensterläden, an der großen Stalltüre. Winselnd hat sich der Kettenhund in seinem mit Stroh dürftig ausgelegten Holzverschlag verkrochen. Wenig später geht ein heftiger Schneeschauer nieder.
Man schreibt den 31. März 1922. Früh schon ist es an diesem Tag dunkel geworden, Kurz vor der Dämmerung traf auf dem Einödhof die neue Magd aus Kühbach ein, mit Koffern, Schachteln und Taschen schwer bepackt. Am 1. April soll ihr erster Arbeitstag sein.
Der 65jährige Hofherr Andreas Gruber, seine Frau Zäzilia, seine Tochter Viktoria Gabriel und das Enkelkind Zäzilia (7) sitzen in der großen Stube. Der zweite Enkel, der zweieinhalbjährige Josef, schläft in seiner Wiege.
Grimmig zieht der Bauer Andreas Gruber an seiner Pfeife. Er ärgert sich immer noch über den Schlüssel, den er am Tag vorher verloren und nicht mehr gefunden hat. Seine Frau flickt wortlos zerrissene Socken und Viktoria, deren Mann seit 1917 vermißt ist, beobachtet ihre Tochter bei den Hausaufgaben.
Mit einem mürrischen "Gut' Nacht" geht Andreas Gruber kurz darauf ins Bett. Er liegt noch keine Minute, als die in der Stube Zurückgebliebenen zusammenzucken. Alle haben gehört, wie mit lautem Krach die Stalltüre zuflog und im selben Augenblick beginnt die Kuh zu brüllen. Die 73jährige Zäzilia Gruber steht auf, nimmt eine Petroleumlampe und geht hinüber zu dem stockdunklen Stall. Stumm schauen ihr die andern nach. Sekunden später hören sie, wie die Stalltüre geöffnet wird - dann ist es still. Doch kurz darauf beginnt die Kuh erneut zu brüllen. Niemand im Hause ahnt etwas von dem Schrecklichen, das sich draußen abspielt. Als nach zehn, 15 Minuten, Zäzilia Gruber immer noch nicht zurückkommt, geht Viktoria Gabriel zur Tür und hinaus in die finstere Nacht.
Die kleine Zäzilia sitzt jetzt allein in der großen Stube. Als plötzlich der Wind unheimlich um das alte Haus heult, die Petroleumlampe unruhig zu flackern beginnt und die Vorhänge am Fenster sich wie von Geisterhand bewegen, bekommt das Kind Angst. Auf seinen Schreie hin steigt Andreas Gruber wieder aus dem Bett, beruhigt das Mädchen und geht dann selbst hinaus in den Stall - nur mit Unterhosen bekleidet. Wieder ist das Kind allein.
Immer gespenstischer wies es in dem Haus. Die Kuh brüllt immer noch, keiner kommt mehr zurück. Da faßt sich die Siebenjährige ein Herz, nimmt die Petroleumlampe und rennt hinüber zum Stall. Kaum hat das Kind die Tür zum Stall aufgerissen, wird es von kräftigen Männerhänden gepackt. Es spürt noch einen wahnsinnigen Schlag auf den Kopf, fühlt Blut übers Gesicht laufen, dann ist es vorbei.
Kaltblütig schleichen anschließend die unheimlichen Mörder ins Wohnhaus, um auch noch das letzte Leben auf Hinterkaifeck auszulöschen. Die 45 Jahre alte Magd Marie Baumgartner, will sich gerade in ihrer Kammer ausziehen, als sie jemand näherschleichen hört. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, wird die nur angelehnte Kammertür aufgeschoben. Als die Frau nachschauen will, erstarrt sie, angstvoll weiten sich ihre Augen, sie schreit auf und wirft instinktiv die Hände schützend vors Gesicht - vergebens. Minuten später wird als letzter der zweieinhalbjährige Josef in seinem Kinderwagen erschlagen.
Seit jener unheilvollen Nacht steht der Name Hinterkaifeck in Bayern für das Verbrechen schlechthin. Der sechsfache Mord - bis heute ungeklärt - ist in all den Jahren Bayerns größter Kriminalfall geblieben. Nie mehr seitdem hat jemand so unbarmherzig getötet. Im Juni 1955 meldete die deutsche Presse unter der Schlagzeile "Sechsfacher Mord bleibt ungesühnt": "Die bayerischen Justizbehörden haben die Akten über eines der grausigsten Verbrechend er Kriminalgeschichte 33 Jahre nach der Tat jetzt endgültig geschlossen, ohne daß die mutmaßlichen Täter zur Rechenschaft gezogen worden sind. Damit senkt sich der Vorhang über einen Fall, der auch in seinen unheimlichen und verhängnisvollen Begleitumständen einzig dasteht..."
Der Münchner Journalist Peter Leuschner (30) hat jetzt Einsicht erhalten in bisher geheime Polizei-Akten. 55 Jahre nach jener schrecklichen Nacht schildert er, wie es tatsächlich war. Er sprach mit Nachbarn der Ermordeten, mit Verwandten der Opfer und mit dem heute 85jährigen Hans Lauterbach, der über den Fall als junger Reporter in der "Neuen Augsburger Zeitung" aktuell berichtet hatte. Lauterbacher, der als einziger Journalist das Geschehen unmittelbar nach Entdeckung der Tat selbst miterlebte, schloß damals mit dem Satz: "Möge es der strafenden Gerechtigkeit gelingen, die unmenschlichen Verbrecher festzustellen."
Das Buch Leuschners wird unter dem Titel "Hinterkaifeck - Deutschlands größter Kriminalfall" im Frühjahr '78 im W. Ludwig Verlag, 8068 Pfaffenhofen, erscheinen.
Offene Fragen/Bemerkungen
2 Rechtschreibfehler wurde verbessert:
Vorhand --> Vorhang
Macht --> Nacht
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