Der Mörder lebt unter uns!

Detailinformationen

Datum

20.01.1953

Ort

München

Art des Dokumentes

Zeitungsartikel

Verfasser

Stefan Jörg

Verfasst für

Münchener Abendzeitung

Verfügbar

Inhalt

Stefan Jörg berichtet über die Bluttat von Hinterkaifeck

2. Fortsetzung
Wie hypnotisiert, wie Marionetten, die an einer unsichtbaren Schnur gezogen werden, laufen sie, einer nach dem anderen in ihr Schicksal. Andreas Gruber, seine Frau Cäcilie, die blonde Viktoria und das siebenjährige Schulkind. Lautlos sterben sie. Einmal nur muß jemand geschrien haben, in letzter, verzweifelter Todesangst. Vielleicht war es der kleine Spitz, dem der Mörder einen Schlag quer über den Schädel und in das eine Auge versetzte, vielleicht war es das Kind, vielleicht auch eine der Frauen. Die Magd jedenfalls hört etwas. Eiskalt kriecht ihr die Angst den Rücken hinauf. In fliegender Hast zieht sie sich den Mantel wieder über, steigt in die Schuhe, schnürt nicht einmal die Bänder zu und nimmt den Rucksack über eine Schulter. „Nichts wie fort aus diesem unheimlichen Haus“, hämmern ihre Gedanken. Da knarrt etwas. Die Tür fliegt auf. Und der Tod steht auf der Schwelle. Der Tod, der schließlich auch nicht vor dem Kinderwagen des armseligen unschuldigen Säuglings Halt macht. Der Tod, der Mörder, der in wahnsinniger Rachelust innerhalb von einer knappen halben Stunde sechs Menschenleben auslöscht.
Niemand denkt sich etwas dabei, als am nächsten Morgen die kleine Cäcilie nicht auf ihrer Bank in der Schule sitzt. „Die hat öfters mal ein paar Tage gefehlt", sagt man heute in Gröbern. Als am Sonntag die Hinterkaifecker nicht zur Kirche kommen, beginnt man sich zu wundern. Am Montag bringt der Postbote wie gewöhnlich die Zeitung. Er sieht keinen Menschen auf dem Hof. Am nächsten Vormittag kommt er wieder. Da steckt, am gewohnten Platz, noch die Zeitung von gestern. Er erzählt so nebenbei unten im Dorf, was er beobachtet hat. Am frühen Nachmittag kommt ein Monteur aus Pfaffenhofen, den Andreas Gruber bestellt hatte. Der Monteur klopft, pfeift und ruft. Als er keine Antwort erhält, geht er in den Geräteschuppen, sperrt ihn mit dem Dietrich auf und macht sich an die Arbeit. Als er fertig ist, rührt sich immer noch nichts auf dem Hof. Der Monteur geht zum Händewaschen in den Stall. Dabei kommt er durch die Futterkammer, in der zu dieser Zeit vier Leichen liegen. Aber er sieht es nicht in dem halbdunklen Raum. Es fällt ihm nur auf, daß das Vieh unruhig ist. Er schließt das Motorenhäuschen wieder, steigt auf sein Fahrrad und fährt nach Gröbern. Dort geht er zum Ortsführer. „Die Grubers sind wohl auf dem Feld, sagen Sie ihnen bitte, daß ich da war."
Lorenz Schlittenbauer wird stutzig. Zuerst waren sie nicht in der Kirche, dann holen sie die Zeitung nicht ins Haus herein, der Schornstein raucht nicht und jetzt soll die- ganze Familie auf dem Feld sein. Weit und breit ist aber um Hinterkaifeck niemand zu sehen. Und die Grubers haben ihre Felder alle in nächster Nähe des Hofes. Der Schlittenbauer macht sich jetzt doch Sorgen. Er trommelt seine Nachbarn heraus, den Jakob Sigi und den alten Pölt (Pöll). Vor den beiden schämt er sich beinahe seiner Besorgnis. Und witzelt noch: „Da droben rührt sich nix. Entweder ham sie sich alle aufg'hängt, oder man hat's allesamt derschlag'n."
Mit schweren Gedanken steigen die vier nach Hinterkaifeck hinauf. Als sie die Haustür verschlossen finden, geht Lorenz Schlittenbauer sofort auf die Stadltür zu. Er kennt sich in diesem Haus aus wie in seiner Hosentasche. Die anderen folgen ihm. Aber vor der Türschwelle weist er seinen 16jährigen Sohn zurück. „Du bleibst besser erstmal draußen", knurrt er.
Noch heute schüttelt die Erinnerung an das Geschehene den alten Jakob Sigl. In der Futterkammer, dem Raum zwischen Küche und Stall, liegen nebeneinander, nur flüchtig mit Heu und ein paar Brettern zugedeckt, vier Tote: Andreas Gruber und seine Frau, Viktoria Gabriel und die kleine Cäcilie.
„Der Fuß von der alt'en Gruberin hat aus dem Heu herausg'schaut, das war das erste, was wir g'sehen haben." Schlittenbauer zerrt die vier Leichen aus dem Heu heraus und schleift sie auf die Seite. Alle weisen sie schwere Schädelverletzungen auf.
Dann finden sie im „Stüber!" die Magd Marie Baumgartner.
Schlittenbauer fällt der kleine Josef ein, der Bub, den er trotz allem immer geliebt hat. Im Schlafzimmer der Grubers finden sie ihn grauenvoll zugerichtet. Der Mörder hatte mit einem einzigen schweren Schlag das Dach des Kinderwagens und den Kopf des kleinen Bubenzerschmettert.
Als sie sich wieder gefaßt haben, untersuchen die drei kopflos und ohne jedes System das Haus. Vieles läßt auf einen Raubmord schließen. Die leere, dickbauchige Geldtasche des alten Bauern, die auf seiner Bettstatt liegt, die herausgerissenen Schubladen und Kästen. Aber dann hängen da wieder die ganzen kostbaren Kleider der Bäuerinnen, da liegen zahlreiche wertvolle Schmuckstücke und mehrere Uhren, da finden sie einen ganzen Topf voller Gold- und Silbermünzen im Wert von rund 2000 Mark. Sie stehen vor einem vollkommenen Rätsel. Betäubt vor Entsetzen verlassen die Männer gegen vier Uhr nachmittags wieder den Hof, um im Dorf Bescheid zu geben. Einer von ihnen hält Wache bei den Toten. Wie ein Lauffeuer geht die Schreckenskunde von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf. Der Gendarm ist an diesem Abend ausgerechnet nicht zu finden. Aber dafür machen sich von weit und breit her alle auf den Weg, die gesunde Beine haben. Die Männer nehmen Dreschflegel, Sensen und Mistgabeln mit, die Frauen Weihrauch und Kerzen. Jeder rennt erst, von wilder Neugier getrieben, in das Schreckenshaus und verläßt es dann wieder, fast gelähmt vor Entsetzen. Schluchzend knien die Frauen und Männer vor dem Haus und fangen an zu beten.
(Fortsetzung morgen)

 
                                        
 

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