Die Mordnacht in Hinterkaifeck

Detailinformationen

Datum

1951

Ort

Ingolstadt

Art des Dokumentes

Zeitungsserie

Verfasser

Josef Ludwig Hecker

Verfasst für

Donaukurier

Inhalt

DER STURM
Klatschend schlägt der Laden gegen das Küchenfenster. Viktoria, die junge Bäuerin, die eben ihr Jüngstes in den hochräderigen Kinderwagen bettet, hebt den Kopf, dann eilt sie ans Fenster. Der Laden schlägt zum zweiten Mal an die Scheibe. Die Frau reißt das Fenster auf und beugt sich hinaus, um den Laden einzuhaken. Ein heftiger Windstoß fährt ihr entgegen. Draußen sieht es böse aus. Heulend rast der Sturm heran und treibt ganze Wolken von Sand und Staub vor sich her. Da fallen schon die ersten Tropfen. Etwas schlägt hart und schmerzhaft an Viktorias Stirn. Es hagelt.
Die Bäuerin wirft das Fenster zu. Sie reißt ein Kopftuch von der Trockenstange überm Herd und hüllt es über ihr Haar. Jetzt erst sieht sie ihren Vater, der da in der Küchentür steht. Kraftvoll und ein wenig gebückt steht er da. Er weiß, sie will hinaus und die Wäsche vom Strick nehmen. Er winkt ihr, zubleiben, dann geht er ins Freie.
Die junge Frau läuft wieder ans Fenster. Die Staubwolken draußen sind verschwunden, aber die Sicht reicht kaum bis zum Weg hinüber, so sehr regnet und hagelt es. Den Hut tief in die Stirn gedrückt und den Kragen seiner Joppe hochgeschlagen, geht der alte Gruber an dem zwischen zwei Bäumen gespannten Strick entlang und nimmt ein Wäschestück nach dem anderen ab. Der Sturm zerrt wütend an ihm, aber dem Mann eilt es nicht, und als er etwas entfernt noch ein Kinderhemdchen am Ast eines Baumes flattern sieht, wohin es der Wind entführte, geht er hin und holt es behutsam herunter. Dann nähert er sich, vornübergebeugt gegen den Sturm ankämpfend, dem Haus.
Wenig später erscheint er in der Küche. Er legt die triefende Wäsche auf den Tisch und entledigt sich seiner Joppe. Nach ihm tritt die alte Bäuerin ein. Sie stellt mit zitternden Händen eine geweihte Kerze auf den Tisch. Die junge Frau kniet an der Seite ihrer Mutter nieder. Sie beten. Andreas Gruber steht am Fenster und betet mit. Der Hagel läßt langsam nach, und nun regnet es, als hätte der Himmel alle Schleusen geöffnet. Ein Ende dieses Regens ist nicht abzusehen. Der Himmel ist eine einzige schwarze Wolkendecke.
Der Mann am Fenster wendet sich langsam um. Das Licht der Kerze verbreitet eine flackernde Helle in der Küche. Das blonde Haar der jungen Frau leuchtet darin auf. Ihr Gesicht zeigt einen rosigen Schimmer. Welk und greisenhaft wirkt ihre Mutter neben ihr. Der Knabe im Kinderwagen fängt zu weinen an. Andreas Gruber geht hin. Seine schwielige Hand legt sich auf den Kopf des Kindes. Etwas von seiner Ruhe strömt auf den zweieinhalbjährigen Knaben über. Sein Weinen verstummt.
Der alte Gruber wendet langsam den Kopf. Immer noch brennt die Kerze, immer noch schimmert in ihrem Licht Viktorias Haar. Das Tuch ist auf ihre Schulter niedergeglitten. Nun schlägt sie ein Kreuz und erhebt sich. Die alte Frau bläst die Kerze aus. Es ist nahezu dunkel in der Küche, aber die von Hinterkaifeck sind dafür bekannt, daß sie wenig Licht brauchen.
Viktoria nähert sich dem Fenster und blickt in den trostlosen Regen hinaus. Ihr Vater tritt an ihre Seite. Während der letzten vierzehn Tage hat man von diesem Fenster aus nichts gesehen als blühendes Land, und nun ist die ganze Schönheit in unbarmherzigen Wasserfluten ertrunken. Der Platz vor dem Gehöft gleicht stellenweise einem See, und immer noch regnet es mit unverminderter Heftigkeit. Der Blick reicht kaum bis zum Weg hinüber, der nach Gröbern führt. Jenseits des Wegen verschwimmt alles in grauen Dunstschleiern.
Wo das undurchdringliche Nebelgrau beginnt, ragen, einem scharfen Auge eben noch erkennbar, drei Bäume. Andreas Gruber starrt hin. Er kneift die Lider zusammen, um den Blick zu schärfen. Täuscht er sich, oder steht da drüben, neben dem mittleren der drei Bäume, eine menschliche Gestalt? Offenbar täuscht er sich nicht, denn seine Tochter macht die selbe Wahrnehmung.
"Da drüben steht einer", sagt sie, und ihre Hand, die auf dem Fensterbrett liegt, ballt sich zur Faust.
"Unsinn", erwidert der alte Mann. "Bei einem solchen Regen stellt sich kein Mensch wie ein Holzklotz ins Freie."
"Es steht aber einer dort", beharrt Viktoria. "Genau neben dem mittleren Baum. Er trägt einen Mantel und schaut in einemfort zum Hof herüber."
"Dir geht immer noch der Kerl im Kopf um, den du neulich im Wald verschwinden sahst", bemerkte der alte Gruber, ohne den Blick von der regungslosen Gestalt unter dem Baum zu wenden. "Wahrscheinlich ist dies auch eine Einbildung gewesen."
Seine Tochter schüttelt den Kopf.
"Es war einer im Wald", sagt sie und hält die Faust immer noch geballt. "Er trug einen grauen Mantel. Sein Gesicht sah ich nicht, denn er verschwand sofort in den Büschen, als ich ihn bemerkte."
Andreas Gruber brummt etwas Unverständliches, dann wendet er sich um. Er streift den noch nassen Rock über und setzt den Hut auf. Mit zwei Schritten ist seine Tochter an seiner Seite.
"Bleib", kommt es über ihre Lippen. "Der Mensch da draußen führt nichts Gutes im Schilde."
Aber der alte Mann läßt sich von seinem Vorhaben nicht abhalten. Einen derben Knotenstock in der Rechten, verläßt er das Haus. Er muß den Hut auf den Kopf niederdrücken, so wild fährt ihm der Sturm entgegen. Viktoria steht mit bangklopfenden Herzen am Fenster. Ihr Blick sucht die Stelle unter den Bäumen, wo sie vorhin die regungslose Gestalt gesehen hatte. Sie sieht nur die drei Bäume. Die Gestalt ist verschwunden.
Undeutlich gewahrt sie ihren Vater. Jetzt muß er bei den Bäumen angelangt sein. Und nun sieht sie ihn nicht mehr. Der graue Regendunst jenseits des Weges hat ihn verschluckt. Ihn und den Menschen, der zuvor unter den Bäumen gestanden hatte. Ein paar Minuten vergehen und dann taucht wieder ein Schatten auf, der langsam heran kommt und Gestalt annimmt. Es ist ihr Vater. Ruhig, als herrschte schönstes Wetter, nähert er sich dem Hofe. Das Wasser rinnt in Strömen an ihm herunter, als er die Küche betritt.
"Nichts", sagt er und schlüpft wieder aus seinem Rock. ²Neben dem mittleren Baum liegt ein Wagenbrett. Kann sein, daß es zuvor dort lehnte und vorhin vom Sturm umgerissen wurde."
"Ist das wahr?", fragt Viktoria und drückt die Hände vor der Brust zusammen.
"Du kannst ja hingehen und dir das Brett selber betrachten, wenn's dir nicht um's Naßwerden ist", erwidert ihr Vater. Er sieht sie nicht an, während er die Unwahrheit sagt. Es liegt kein Brett dort. Ein Mensch hat unter dem Baum gestanden. Ein Mensch, der lautlos das Weite suchte, als er bemerkte, daß sich jemand vom Hofe näherte. Seltsam ist das Ganze ja nur, weil es so stark regnet. Was kann einen Menschen veranlassen, sich bei solchem Regen ins Freie zu stellen und ein Haus zu beobachten?

 
                                        
 

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