Stefan Jörg berichtet über die Bluttat von Hinterkaifeck
1. Fortsetzung
So richtig kannte sich eigentlich kein Mensch in den benachbarten Dörfern Waidhofen und Gröbern mit den Bewohnern der Einöde Hinterkaifeck aus. Sie waren zwar hilfsbereit und freundlich zu jedermann, sie waren geachtet, und sie gingen sonntags brav in die Kirche, aber sonst führten sie ganz ihr eigenes Leben. Nur die allernächsten Nachbarn kamen mitunter in das Innere des Hofes, Hausierer und Hamsterer. Reisende wurden ziemlich kurz abgewiesen. Und selbst der Postbote, ein lustiger, pfiffiger Bursche, durfte höchstens einmal im Monat, wenn er die Witwenrente für die junge Bäuerin brachte, das Haus betreten.
Da war der alte Bauer, Andreas Gruber. Mit seinen 64 Jahren noch sehr rüstig, der es an Kraft, Arbeitswut und Behändigkeit noch leicht mit jedem Jungen aufnahm. Und dann seine Frau, die um neun Jahre ältere Cäcilie Gruber, die stets ein wenig verhärmt, bedrückt und ängstlich aussah. Sie war schon nicht mehr besonders gut auf den Beinen.
Als ihre gemeinsame einzige Tochter Viktoria vor dem Weltkrieg den Nachbarssohn [Personen:Gabriel Karl|Karl Gabriel]] heiratete, übergaben die Alten den Hof Ihren Kindern und blieben nach alter Sitte bei ihnen als Austragsgütler. Dann mußte der Karl den Soldatenrock anziehen und in den Krieg hinaus. Schon wenige Tage vor Weihnachten 1914 schrieben seine Kameraden, daß er bei Neuville an der Westfront den Soldatentod gestorben sei. Der alte Gruber war wieder Bauer auf seinem Hof, und die blonde, temperamentvolle Veronika (Viktoria) war wieder allein. Manch einer der Dorfburschen bemühte sich um die junge Frau, die nicht nur recht hübsch, sondern auch noch eine ausgesprochen gute Partie war. Aber die „Vik", wie man sie in Waidhofen und Gröbern kurz nannte, war auf geradezu rätselhafte Weise ablehnend. Sie kam zwar jeden Sonntag ins Dorf, um im Kirchenchor zu singen, aber wenn es heim ging, stand plötzlich der alte Gruber an ihrer Seite, sie hängte sich bei ihm ein und die beiden verschwanden in Richtung Hinterkaifeck. Dann begann man zu munkeln. Die Vik brachte ein Kind zur Welt, ein nettes kleines Mädchen. Die Dorfklatschbasen rechneten es an den Fingern ab, über ein Jahr war schon vergangen, seit der arme Karl Gabriel zum letztenmal auf Urlaub daheim gewesen war. Und seit seinem Tod hatte sich die Vik ganz bestimmt mit keinem der Dorfburschen abgegeben. Dann wurde eine Magd in Hinterkaifeck entlassen. Auch sie berichtete seltsame Dinge von der großen Liebe und den Zärtlichkeiten zwischen der Viktoria und dem alten Gruber. Es kam schließlich zu einem hochnotpeinlichen Verhör durch den Dorfgendarmen, es gab Gerichtsverhandlungen, Zeugen marschierten auf und am Ende mußten die Viktoria und ihr Vater wegen blutschänderischen Beziehungen ins Gefängnis. „Zwei Jahre hams drin’sessen“, berichtet der heutige Bürgermeister von Waidhofen. Doch eines Tages waren sie wieder daheim, der Gruber und seine Tochter. Zuerst zog man im Dorf noch ein bißchen die Nase hoch, aber schließlich kam so was auf den Einödhöfen in den dunklen Wäldern von Schwaben ja öfter vor. Die Viktoria ging wieder fleißig zum Chorsingen und der Gruber schaffte wieder wir ein Junger auf den Feldern um Hinterkaifeck.
Mit der Zeit gewöhnte man sich dran, daß die in Hinterkaifeck Einzelgänger und Sonderlinge waren. Nur einer, der Ortsführer, der Lorenz Schlittenbauer, ein Spezl vom alten Gruber, fast genauso alt wie er und ein glühender Verehrer der Viktoria, war auf ihrem Hof ein oft gesehener Gast.Vielleicht erhoffte er sich von dieser Freundschaft auch etwas. Er konnte unter Umständen seinen eigenen Hof den erwachsenen Kindern übergeben, die Vik heiraten und Bauer auf Hinterkaifeck werden. Diesen Vorschlag soll er, so erzählen heute noch die Bewohner vom benachbarten Gröbern, dem alten Gruber mehr als einmal gemacht haben. Aber der Alte brachte keine besonderen Sympathien für diesen Gedanken auf. Über all dem kam die Viktoria zum zweiten Male in die Hoffnung. Im Herbst 1919 brachte sie einen kleinen Buben zur Welt, den Josef. Der Schliittenbauer Lorenz gab vor dem Gemeindeschreiber an, daß er der Vater sei. Es ging das Gerücht durch das ganze Dorf, der Schlittenbauer habe sich mit tausend Mark diese Vaterschafts-Unterschrift vom alten Gruber bezahlen lassen. Denn ein zweites Mal ins Gefängnis wollte der Alte und seine Tochter auf gar keinen Fall. Also wurde der Lorenz der Kindsvater und der Gruber um 1000 Mark ärmer. Dann ging‘s aber in den nächsten Jahren ans Alimente-Zahlen. Und die Viktoria wollte nichts von einer Heirat mit dem Lenz wissen. Außerdem soll sie zu dieser Zeit schon einen anderen Verehrer gehabt haben. Einen großen, kräftigen Burschen mit kohlrabenschwarzen Augen, der immer genauso plötzlich verschwand, wie er wieder erschienen war und den im Dorf eigentlich noch nie einer so richtig von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte.
Jedenfalls scheint die Freundschaft zwischen dem Schlittenbauer und den Grubers durch diese Geschichte einen Knacks bekommen zu haben.
So gehen die Monate und Jahre ins Land. Die kleine Cäcilie ist schon sieben und besucht fleißig die Dorfschule und auch der kleine Josef ist schon wieder zweieinhalb Jahre alt.
Es kommen die letzten Tage des März 1922. Seit kurzem wütet ein heftiger Sturm über die Höhen um Schrobenhausen.
Irgend etwas liegt in der Luft, etwas Rätselhaftes, Unheimliches. Am späten Nachmittag geht Andreas Gruber noch einmal über den Hof. Er hat irgendwo seinen Schlüsselbund verloren und kann ihn einfach nicht mehr finden. Und dabei bildet er sich ganz fest ein, daß er ihn selbst an der Stadltür stecken gelassen hat. Das ist am Donnerstag.
Abends steht Andreas am Fenster und starrt in den Sturm hinaus. Auf einmal sieht er, vielleicht hundert Meter vom Haus entfernt, zwischen den drei Tannen einen Mann stehen. Was will dieser Kerl, jetzt mitten in der Nacht und bei diesem Hundewetter? Ohne Grund läßt sich keiner bis auf die Haut naß werden.
Am nächsten Morgen liegt Schnee auf den Feldern rings um Hinterkaifeck. Der alte Gruber schaut sich sorgfältig um. Und er macht eine erschreckende Entdeckung. Verwischte, schon halbverschneite Spuren führen zum Hof. Aber sie führen nicht mehr zurück. Mittags kommt der Postbote aus Waidhofen und reicht die Zeitung herein. Man wechselt ein paar Worte. Am Nachmittag schaut kurz eine siebzehnjährige Magd vorbei, die auf einem der Nachbarhöfe dient, und mit der Viktoria oft gemeinsam in. die Kirche geht. Und dann kommt noch ein Bekannter vom alten Gruber. Es ist der Schwiegervater des Bauern Jakob Sigl, der heute noch in der Nähe von Gröbern lebt. Andreas Gruber ist ziemlich. einsilbig zu seinem Nachbarn. „San Spitzbuben umeinand", brummt er. „Heut nacht müss' ma aufpassen. Mein Hausschlüssel geht mir auch schon seit zwei Tagen ab.“ Der andere bietet seine Hilfe an, als der Gruber ihm das mit den Spuren im Schnee erzählt. Aber da lacht der Bauer nur. „Dank' schön, mit dene werd' i scho fertig!"
Das war der letzte Gast, der noch einen von den Hinterkaifeckern gesprochen hat, bevor das Unglück geschah.
Im Lauf des Nachmittags trifft - mit Regenschirm und Rucksack - die neue Magd ein. „Ich hab's noch laufen sehn", schnauft heut der Jakob Sigl aufgeregt. „Grad gerannt ist sie, die Marie Baumgartner", „als wenn sie's nicht hätt' abwarten können, auch mit umgebracht zu werden!"
Der Schlußakt der Tragödie von Hinterkaifeck spielt sich in den Abendstunden des 31. März ab, zwischen sieben und neun Uhr.
Die neue Magd wird mit Handschlag begrüßt und in ihre Kammer geführt. Dort stellt sie nur ihren Rucksack nieder und macht sich sofort an ihre Arbeit. Sie ist eine kräftige, etwa 45jährige Frau und versteht was von der Stallarbeit. Das stellt die Vik zufrieden fest. Als die Kühe gefüttert und gemolken sind, setzt man sich in die Küche. Schließlich wünscht die Magd gute Nacht. Sie ist müde und außerdem erscheinen ihr die wortkargen Fremden, ihre neuen Brotherrn, ein wenig unfreundlich. – Immer noch heult der Sturm um den Hof. Der alte Gruber und die Viktoria schließen alle Fensterläden. Dabei fällt ihnen auf, daß ihr kleiner Hund, ein Spitz, seltsam unruhig ist, ständig bellt und jault er. Mag wohl das Wetter sein.
Der kleine Josef ist in der Schlafkammer. Inzwischen ist die alte Bäuerin auch schon ins Bett gegangen. Auch die Cäcilie hat gute Nacht gesagt. Andreas Gruber sitzt auf seinem Bettrand und zieht sich langsam und bedächtig aus. Erst die Stiefel, dann die Arbeitshosen und das Oberhemd. Da hört er plötzlich ein lautes Rasseln aus dem Stall, dann ein dumpfes Poltern. Offenbar hat sich eines der Tiere von der Kette losgerissen und läuft jetzt durch den Stall. Auch die anderen, die Vik, ihre Mutter und die Magd haben das Geräusch gehört. Dann geht Einer von ihnen in den Stall um nach dem Rechten zu schauen. Niemand weiß heute mehr, wer es war. Und als er nicht gleich wiederkehrt, folgen ihm die Anderen. Keiner ahnte, daß die paar Schritte über den Gang in den Stall in den Tod führen, daß hinter der Stalltüre im Dunkeln ein Mensch steht, dessen Hände sich unerbittlich und in wütender Entschlossenheit um eine grauenhafte Mordwaffe klammern.
(Fortsetzung morgen)
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