Der Inzest betrachtet im historischen Kontext
Was
Einleitung folgt
Hinweise auf Missbrauch
Konkrete Beweise für einen sexuellen Missbrauch von Viktoria Gabriel durch ihren Vater finden sich in den Akten keine, allerdings existieren zwei voneinander unabhängige Aussagen zweier zeitlich nah beieinander liegenden Ereignisse, in der Andreas Gruber mit seiner minderjährigen Tochter Viktoria den Geschlechtsverkehr durchführte.
Lorenz Schlittenbauer, 30.03.1931 | Die alte Gruberin hat es ja zwar nicht erzählt, aber ihre Tochter, die Viktoria Gabriel. Diese war damals ca. 16 Jahre alt. Sie hat meiner ersten Frau erzählt, daß sie sich vor ihrem Vater nicht mehr halten könne, weil er immer Geschlechtsverkehr haben wolle. |
Maria Missel, 08.05.1937 | Frau Gabriel erzählte einmal in meiner Gegenwart, dass Viktoria Gabriel geb. Gruber mit 17 Jahren immer krank gewesen sei. Ein Arzt von Schrobenhausen hab ihr den Rat gegeben, dass sie mit einem Manne Verkehr pflegen solle, dann werde es mit ihrer Gesundheit wieder besser werden. Viktoria Gabriel geb.Gruber habe damals mit ihren Eltern Rücksprache genommen. Da sie mit keinem Manne bekannt geworden sei, der den Eheleuten Gruber gepasst hätte, habe der alte Gruber in Gegenwart seiner Frau mit Viktoria Gabriel geb. Gruber den Geschlechtsverkehr ausgeführt. Der alte Gruber habe seiner Tochter Viktoria Gabriel geb. Gruber damals die Jungfernschaft genommen. |
Eine weitere Aussage machte Josef Betz am 07.04.1922, der vom Hörensagen berichtet:
Die Alte hat die junge Frau halten müssen, damit der Alte diese mausen habe können.
Anm.: das „halten müssen“ in der Aussage des Betz könnte sich auf die Ausführung der Maria Missel beziehen, die ja von Frau Gabriel erfahren haben will, dass der Geschlechtsverkehr in Gegenwart von Frau Gruber stattgefunden haben soll. Damit wäre wohl der Tatbestand einer Vergewaltigung, bzw. der des sex. Missbrauchs erfüllt.
„Halten müssen“, kann aber auch bedeuten, dass Cäzilia Gruber versuchte, die Tochter Viktoria ohne Gewalt, also bspw. nur mit zureden versuchte auf dem Hof zu halten und am Weglaufen zu hindern. Auch dieses Beispiel müsste man dann dahingehend auslegen, dass die inzestuöse Beziehung gegen Viktorias Willen stattfand.
Maria Missel erwähnt in ihrer Aussage, dass sich Viktoria Gabriel nach einem Arztbesuch mit ihren Eltern über dessen Empfehlung besprochen haben soll. Dies kann bedeuten, dass sich die damals 17 Jahre alte Viktoria äußerst unwohl über dessen Vorschlag fühlte, und keinesfalls damit einverstanden war sich einen Partner zu suchen
Viktoria ist 1887 geboren, die beiden Aussagen betreffen also die Jahre um 1903/1904. Diese Vorfälle konnten im Prozess von 1915 nicht mehr behandelt werden, da bei Taten mit Körperkontakt, auch die schweren Fälle, bis 1998 nach zehn Jahren verjährten. (der § 176 a StGB trat erst am 01.04.1998 in Kraft. Erst seitdem ist der schwere sexuelle Missbrauch von Kindern mit einer Verjährungsfrist von 20 Jahren belegt.)
Ermittlungen zum Inzestprozeß 1915
Tanja Hommen schildert, dass auch ein Gerücht, das den Gendarmen erreichte ausreichte, um aktiv zu werden.
Der erste, der die Aussagen von Opfern, Zeuginnen und Zeugen sowie mutmaßlichen Tätern aufnahm, war im ländlichen Bayern des behandelten Zeitraums der Gendarm. Ihm kam die Aufgabe zu, auf eine Anzeige oder ein Gerücht hin erste Recherchen durchzuführen und den Beschuldigten zu verhaften, sofern der Verdacht hinreichend erschien!... Erfuhr der örtliche Gendarm von einer Straftat, recherchierte er, indem er zunächst die unmittelbaren Tatzeuginnen und -zeugen befragte, und schickte sobald wie möglich (meist ein bis zwei Tage später) einen Bericht an die Staatsanwaltschaft des zuständigen Landgerichts. In fast allen untersuchten Akten befindet sich ein solcher Bericht. Die Aussagen der vernommenen Personen sind darin entweder knapp zusammengefasst oder in indirekter Rede wiedergegeben. Wenn es dem Gendarmen besonders wichtig erschien, zitierte er eine Äußerung auch einmal wörtlich…. Sobald genügend Verdachtsmomente bestanden, eröffnete der Staats-anwalt die richterliche Voruntersuchung. Dem Untersuchungsrichter kam die Vernehmung der Zeuginnen und Zeugen und des Beschuldigten zu.9 Die Zeuginnen und Zeugen wurden förmlich geladen und vor ihrer Vernehmung vereidigt. Der Gerichtsschreiber hielt die Aussagen in einem Protokoll fest, das den Befragten am Ende vorgelesen wurde. Durch ihre Unterschrift bestätigten sie die festgehaltenen Aussagen.' Über den Abschluß der Voruntersuchung entschied der Staatsanwalt. lagen seiner Ansicht nach genug Beweise für eine Schuld des Angeklagten vor, erfolgte die Anklageerhebung. Der Staatsanwalt verfasste die Anklageschrift…
Da ja entweder ein Gerücht erst aufkommen oder konkret eine Anzeige eingegangen sein musste, dann die Voruntersuchung ausreichend Verdachtsmomente für die Anklageerhebung ergeben hatte, liegt nahe, dass es Zeugen gegeben hat, die schließlich für den Zeitraum 1907-1910 glaubwürdig ausgesagt haben.
Das Viktoria Gabriel mit verurteilt wurde, ist keineswegs einer Freiwilligkeit ihr anzurechnen, vielmehr war das Gesetz hier eindeutig.
§ 173 |
Bezüglich der gering ausgefallenen Haftstrafen, kann mglw. darüber spekuliert werden, dass die Verurteilten geständig waren oder Reue zeigten.
Fortführung des Inzests nach der Verurteilung
Hierzu gibt es lediglich die Aussage der Magd Kreszenz Rieger, die von November 1920 bis August/September 1921 auf dem Hof lebte und Augenzeugin wurde.
Kreszenz Rieger,09.07.1952 | Eines Tages, es war im Frühjahr 1921, kam ich in den Stadel und wollte dem alten Gruber beim Aufladen eines Wasserfasses behilflich sein. Als ich dann in die Scheune kam, traf ich den Gruber im Stroh liegend an, wie er gerade mit seiner Tochter Viktoria den Geschlechtsverkehr ausübte. Ich weiß bestimmt, daß ich damals von der Viktoria Gabriel gesehen wurde. Dies deshalb, weil sie mir nachher sagte, daß, wenn sie das gewußt hätte, daß ich in den Stadel komme, sie sich ihrem Vater nicht hingegeben hätte. Bei einer anderen Gelegenheit hörte ich wie Andreas Gruber zu seiner Tochter, Frau Gabriel sagte, daß sie nicht heiraten brauche, denn solange er lebe ist er für“ dies“ da. Damit wollte er sagen, daß er seine Tochter in geschlechtlicher. Hinsicht immer befriedigen werde. Als Gruber dies sagte, waren die Beiden beim Instandsetzen des Taubenschlages im Getreideboden beschäftigt. Dies war nachdem ich die Beiden vorher im Stadel bei der Ausübung des Geschlechtsverkehrs überrascht habe. |
Rieger, 09.07.1952, 2. Aussage | Gesehen habe ich nie, dass Gruber bei seiner Tochter, Frau Gabriel, im Bette gelegen sei. Dagegen habe ich die beiden einmal abends zwischen 7 und 8 Uhr in der Scheune überrascht, wie sie auf dem Stroh liegend den Geschlechtsverkehr ausübten. Nachher sagte Frau Gabriel zu mir, wenn sie gewusst hätte, dass ich in die Scheune käme, wäre sie nicht hinausgegangen. |
Rieger bedient sich hier zweier Wörter, die den Sachverhalt aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln darstellen:
hingegeben“ suggeriert eine Freiwilligkeit , während „hinausgegangen“ Gehorsam andeutet. Obendrein ist fraglich, ob sich Viktoria Gabriel die deshalb bereits vorbestraft war einer Zeugin und potenziellen Gefahrenquelle derart offen geäußert hätte.
Außerdem berichtet Lorenz Schlittenbauer in seiner Aussage vom 30.03.1931 darüber, dass die mit Josef Gruber schwangere Viktoria Gabriel ihm eingestand es sei das Bessere wenn sie sage das Lorenz Schlittenbauer der Vater ist, also hier ganz klar nicht behauptet hat, das nur der Lorenz Schlittenbauer als Vater in Frage kommt.
Wie ich dann kurz darauf seine Tochter wieder traf, sagte mir dieselbe, daß sie in der Hoffnung sei. Sie sagte auch, daß ich der Vater sei. Ich protestierte dagegen und sagte ihr:“ Da ist doch Dein Vater auch dabei“. Sie erwiderte darauf: „Das ist eben das bessere, daß ich sagen kann, Vater Du bist auch dabei, sonst täte er mich erschlagen“.
Dies führte im weiteren Verlauf zu Irrungen und Wirrungen um die Vaterschaft, Anzeigen, U-Haft, und schließlich auch zu einer Anklage, die aber mit Freispruch für Andreas Gruber und Viktoria Gabriel endete.
Missbrauchsstrukturen
Sexuelle Gewalt ist, wie jede Form der Gewalt, zugleich Ausdruck und Bestandteil von Machtverhältnissen, hier männlicher Herrschaft über die Frau und das Kind, die der Aufrechterhaltung der geschlechtsspezifischen Machtverteilung dienen. Täter wie Opfer sind dabei eingebunden in ein komplexes Diskursgefüge aus Macht und Wissen, das ihnen bestimmte Positionen zuweist.
Zurück bleiben häufig niederschmetternde Schuldgefühle. Wohl wissend, welches unerhörte Tabu gebrochen wurde, plagt die Opfer das Gewissen. Die Seelenqualen, die der verbotenen Lust folgen, werden noch verstärkt, weil sich die meisten Betroffenen niemandem anzuvertrauen wagen. »Das eigentliche Trauma ist die Isolierung durch das Schweigen«, behauptet Carl Nedelmann, Direktor des Hamburger Michael-Balint-Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie. Der Druck, Inzest-Erlebnisse allein zu verarbeiten, könne zu erheblichen seelischen Schäden führen. [ DER SPIEGEL 33/1991]
Folgen
Die Hilfsorganisation Lichtweg beschreibt anschaulich die Folgen für Betroffene, deren Leben durch die Missbrauchserfahrungen geprägt und belastet ist.
Zentrales schädigendes Element bei sexuellem Missbrauch, vor allem innerhalb der Familie, ist die langfristige Verwirrung, der das Kind auf kognitiver, emotionaler und sexueller Ebene ausgesetzt ist. Es ist frühzeitig sexuell stimulierter Pseudo-Partner und zugleich strukturell abhängiges Kind, und es wird möglicherweise noch durch Gewalt bedroht. Die Verwirrung hinsichtlich der Generationszugehörigkeiten und die Vermischung der Rollen einer (väterlichen) Autoritätsfigur und sexuellen Partners wird von den Missbrauchern häufig durch die möglichst vollständige Verleugnung der Tatsache, dass überhaupt sexuelle Handlungen stattfinden, aufrechterhalten. So ereignet sich der Missbrauch oft in völligem Schweigen und in Dunkelheit. Die körperliche Nähe und die sexuelle Erregung stehen in direktem Widerspruch zur Negierung der Realität. Damit wird dem Kind die Möglichkeit genommen, die zentralen Aspekte dieser emotional intensiven und verwirrenden Erfahrung kognitiv und sozial sinnvoll zuzuordnen - und es ist darüber hinaus noch gezwungen, diese Verwirrung geheimzuhalten.
Sexueller Missbrauch setzt das Kind also nicht nur traumatischen Erfahrungen aus, durch die seine sexuellen Gefühle und Vorstellungen in einer Weise beeinflusst werden, die seinem Entwicklungsstand und der Qualität seiner Beziehungen nicht entsprechen; wenn es entdeckt, dass eine Person, die es liebt und zu der es in einer lebenswichtigen Beziehung steht, es missbraucht und verletzt, wird es auch in seinem Vertrauen zutiefst erschüttert. Dieser Verrat durch den Missbraucher kann durch die Reaktionen der Umwelt wiederholt und verstärkt werden, wenn das Kind bei seinen Versuchen, sich mitzuteilen und sich dem Missbrauch zu entziehen, keinen Glauben und keine Unterstützung findet.
Als langfristige Folgen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen treten im Erwachsenenalter u. a. häufig auf:
- Störungen der Sexualität und Partnerschaftsprobleme
- Sexualisierung von Beziehungen
- Störung der Sexualfunktionen
- emotionaler Rückzug und soziale Isolation, Misstrauen
Nachbarn
Fast alle Nachbarn erwähnen in ihren Aussagen vom Inzest gewusst zu haben, ob sie dies (erst) durch die Verurteilung 1915 erfuhren, oder bereits vorher wussten ist heute nicht mehr zu rekonstruieren, möglich ist natürlich, das man bereits vorher etwas ahnte. Sh. auch die beiden eingangs erwähnten Aussagen den Zeitraum 1903/1904 betreffend, sowie die ausreichenden Verdachtsmomente für die Anklageerhebung 1915.
Die Berliner Morgenpost berichtete am 02.05.2008 zum Inzest-Drama von Amstetten sehr treffend:
Dem Stumpfsinn entspricht die moralische Verödung. Geschieht nebenan eine Untat oder ein Unglück, zuckt der Beobachter die Schultern. Man habe nichts tun können, lautet später seine Ausrede: weil man ja nichts gewusst habe. In Wahrheit verhält es sich umgekehrt. Man hat nicht zu viel wissen wollen, weil man nichts tun wollte; aber man hat stets so viel gewusst, dass man wusste, was man so genau nicht wissen wollte, aus Bequemlichkeit, Ängstlichkeit und Feigheit. Man lernte mit dem Panzer zu leben. Auch wenn man heute einen Vorfall schrecklich findet, in Wahrheit berührt es einen kaum.
Zur praktischen Erkenntnis von Gut und Böse muss der menschliche Wille empfänglich sein für die Nötigung des Gesetzes. Das moralische Sensorium liefert zwar kein Richtmaß für sittliche Urteile, aber es ist unabdingbar für das Bewusstsein der Tugend und Wahrheit. Ohne moralisches Gefühl ist der Mensch sittlich und geistig tot. Laute Empörung übertüncht nur den Mangel an moralischer Empfindung und Urteilskraft. Im allgemeinen haben Zuschauer wenig Skrupel und Zweifel. Von Scham oder Schuld sind sie weitgehend verschont. Es geht sie nichts an, was nebenan passiert. Ihre Moral erstreckt sich zuletzt bis zum Gartenzaun. Entgegen aller Appelle gilt der alte Befund: Die Grenzen der Moral sind die Grenzen der eigenen Gruppe. Auch im Haus des Verbrechens galt eine spezielle Moral: die des Gehorsams, der Loyalität, der Angst, der Strafe.
Hinweise bei Viktoria
Gibt es in den überlieferten Aussagen der Verhaltensweisen von Viktoria Gabriel Hinweise für Missbrauch?
Bürgermeister Gall, 26.11.1951 | Die Viktoria,verw. Bäuerin, habe ich gut gekannt. Diese hatte sehr viele Kleider und war immer modern gekleidet. |
mögliche Erklärung: |
Rieger, Aussage 2, 09.07.1952 | Während meiner Dienstzeit in Hinterkaifeck kam einmal ein Freier und wollte die Gabriel heiraten. Ich weiß heute nicht mehr, war der Mann von Waidhofen oder von Koppenbach. Es handelte sich um einen Bauerssohn. Der alte Gruber wusste dies aber zu verhindern, indem er sagte, die Viktoria sei nicht zu Hause. Als der Besucher nach der voraussichtlichen Rückkehr der Viktoria fragte, sagte Gruber, dass sie vor abends nicht heimkomme. In Wirklichkeit aber hatte Gruber seine Tochter, Viktoria Gabriel, mit deren Einverständnis in den Kleiderschrank gesperrt. |
mögliche Erklärung: |
Lorenz Schlittenbauer, 30.03.1931 |
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1.).... 2.)... 3.)... 4.)Objektiv betrachtet hätte Viktoria genau hier die die Chance gehabt dem Inzest ein Ende zu setzen, wenn sie Lorenz Schlittenbauer geheiratet hätte, der dies sogar zur Bedingung machte. Allerdings kann man hier auch entgegensetzen, dass:
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Historisches
Die Ausführungen der Ärzte zeigen darüber hinaus, daß der Vater-Tochter-Inzest um die Jahrhundertwende durchaus wahrgenommen wurde.' Mit den Folgen einer inzestuösen Ausbeutung für die betroffenen Kinder und Jugendlichen setzten sich die Ärzte jedoch nicht auseinander. Dabei gab es Untersuchungen, die darauf hindeuteten, daß das Leben vieler Inzestopfer aus der Bahn geriet. Helenefriederike Stelzner untersuchte zum Beispiel in zwei Schriften die Lebensläufe von jungen Prostituierten und Selbstmörderinnen und stellte fest, daß diese Frauen in vielen Fällen im Alter von zwölf bis 15 Jahren von ihren Vätern, Stiefvätern oder Brüdern »verführt« oder vergewaltigt worden waren. Auch Freud entdeckte bei seinen ersten Psychoanalysen sexuelle Traumata in der Kindheit als Ursache hysterischer Neurosen:" Doch im Mittelpunkt des Interesses von Ärzten und Juristen standen andere Fragen - der Erhalt von Familie und Staat und das Problem der Degeneration durch Inzucht. Daraus erklärt sich auch, daß in vielen Strafgesetzbüchern vor dem RStGB die »Deszendenten« ebenso strafbar waren wie die »Aszendenten«. Allenfalls wurde ihnen eine mildere Bestrafung zugestanden. Seit den 1860er Jahren jedoch wurde zumeist der Aspekt des »Mißbrauchs«, das heißt der Ausnutzung des Abhängigkeitsverhältnisses seitens des Elternteils, mit einbezogen. So ergänzte der Anonymus seine obige Erläuterung zum Entwurf des bayerischen StGB von 1861
Bezüglich der sich verfehlenden Aszendenten, Stiefeltern, Schwiegereltern kömmt auch der Mißbrauch des elterlichen Ansehens, der hausväterlichen Gewalt und die Verletzung der besonderen Pflicht, Sitte und Ordnung in der Familie aufrecht zu erhalten, in Betracht, und hierauf gründet sich der Unterschied ihrer Strafe gegenüber der gelinderen Bestrafung des mitschuldigen Untergebenen [Hommen, S. 61]
In Bayern war dieser Gedanke bereits früh in die Gesetzgebung aufgenommen worden. Schon in seiner Ausgabe des StGB für Bayern von 1813 hob Mengelein hervor, daß die Strafbarkeit der »Blutschande« im Mißbrauch der rechtlichen Privatgewalt durch Verführung zur »Unzucht« begründet liege. Strafbar seien vor allem Eltern und andere Blutsverwandte in aufsteigender Linie, die mit ihren Kindern oder anderen Abkömmlingen den Beischlaf vollzögen »oder dieselben sonst zur Wollust mißbrauchen«." Mittermaier sah schließlich 1906 bei der »Blutschande« das Moment der Verführung und des Mißbrauchs des Vertrauensverhältnisses als ebenso wichtig an wie die »naturwidrige Blutsvermischung«, die ursprünglich die Strafbarkeit begründet habe." Eingeführt wurde die Straffreiheit für »Deszendenten« bis 16 Jahre zuerst im StGB des Norddeutschen Bundes, was »im Hinblick auf den Druck des Abhängigkeitsverhältnisses« begrüßt wurde.90 Viele Juristen nahmen »einen Entschuldigungsgrund wegen psychischer Zwangslage« an.' Die »Deszendenten«, hieß es in einer Entscheidung des Reichsgerichts, seien »als willenlose, unter der Gewalt der sie mißbrauchenden Aszendenten handelnde Werkzeuge der letzteren anzusehen«, »als Objekte und Opfer deren Verbrechen sei Im RStGB wurde die Grenze der Straffreiheit für Deszendenten auf 18 Jahre erhöht. Im Vorentwurf von 1909 wurde allerdings vorgeschlagen, diese Straffreiheit im Ermessen des Richters zu belassen, denn es könne durchaus ein beinahe 18jähriger Deszendent der eigentliche Verführer sein» [Hommen, S. 62]
Begriffe
Frauenbild
Während sich die Missbrauchsstrukturen nicht geändert haben, änderte sich die Betrachtungsweise des Verbrechens. Die Umkehrung von Täter- und Opferpositionen die aus dem gewalttätigen Mann das Opfer sexueller Verführung und Triebabhängigkeit, und aus der Frau im Gegenzug eine hysterische und damit unglaubwürdige Zeugin machen hat sich grundliegend geändert.
Eine Frau muss heute nicht mehr nachweisen, dass:
ihr "Nein" laut und deutlich war
Sie sich mit allen Kräften zur Wehr setzte
Laut genug um Hilfe rief
Ihre Beine fest genug zusammen hielt
Bewertung
Quellen
https://www.rechtsicher.com/wie-lange-kann-ich-sexualstraftater-anzeigen/
Tanja Hommen, Sittlichkeitsverbrechen - Sexuelle Gewalt im Kaiserreich
Wulffen Erich, Das Weib als Sexualverbrecherin
Berliner Morgenpost, 02.05.2008
Der Spiegel 33/1991
Lichtweg